Bizarre Cinema: Ein Mann sieht rot (Death Wish)
Bizarre Cinema heißt eine Filmreihe im Hamburger kommunalen Kino Metropolis, die ich mit einer Gruppe von etwa einem Dutzend Filmliebhabern während der Wintermonate betreue. Die Filmauswahl orientiert sich am Bahnhofskino der 1960er- bis 1980er-Jahre, jeder Film wird vom dem- oder derjenigen, der ihn ausgewählt hat, mit einer kurzen Einführung vorgestellt. Die Vorstellungen finden Sonntags um 14:30 Uhr statt, es gibt aber auch gelegentlich abendliche Sondervorführungen.
Am liebsten zeige ich in dieser Reihe Filme, die mich als Kind oder Jugendlicher beeindruckt haben. Ich möchte wissen, ob es an meiner damaligen Naivität liegt, dass ich einzelne Szenen nicht vergessen kann – oder vielleicht doch am Film. Dabei hat sich in den vergangenen Jahren gezeigt, dass fast alle dieser Filme auch im fortgeschrittenen Alter immer noch sehenswert sind – wie auch die Filmauswahl meiner Mitstreiter mich eigentlich nie enttäuscht.
Da die bei Bizarre Cinema laufenden Filme grundsätzlich als Zelluloidkopien gezeigt werden sollen, wird es mit der Zeit immer schwieriger, solche Kindheitserlebnisse wieder aufleben zu lassen, denn diese Kopien sind nur noch in begrenzter Zahl vorhanden. Daher bin ich am vergangenen Sonntag (20. Januar 2019) von dieser Regel abgewichen und habe einen Film vorgestellt, den ich noch nicht gesehen hatte: „Ein Mann sieht rot“ von 1974 mit Charles Bronson. Das Problem dabei: Über einen Film, den ich nicht kenne, kann ich in der Einführung natürlich nicht allzu viel sagen. Interessanterweise ging es vielen, mit denen ich vorher gesprochen habe, ähnlich: Man hat sich den Film damals nicht angeguckt, das gehörte sich einfach nicht. Das Urteil der Katholischen Filmkommission („Wir raten ab.“), das ich im Kinoprogramm ironisch als „höchste Wertung“ zitiert hatte, hatten wir damals brav befolgt. Der Vorwurf, da werde Selbstjustiz propagiert, reichte aus, um uns vom Kinobesuch abzuhalten.
Als jetzt das Licht im Kinosaal wieder anging, war mein erstes Gefühl: guter Film, hat sich gelohnt. Beim anschließenden Gespräch im Kinocafé war ich aber nicht in der Lage, dieses Gefühl zu erklären. Er sei nicht so plump gewesen wie erwartet, sagte ich, stieß aber auf Widerspruch – durchaus berechtigt: Es ist schon recht plump, wie die Kriminellen, gegen die Charles Bronson ins Feld zieht, dargestellt werden. Vielleicht ist es ohnehin die falsche Frage, ob der Film nach ästhetischen oder filmhistorischen Kriterien als gut zu bewerten ist oder nicht. Gelohnt hat er sich für mich, weil er mir etwas erschlossen hat, aber dazu gehört aus heutiger Sicht natürlich die Rezeptionsgeschichte untrennbar dazu, die damalige Empörung und die lang andauernde Indizierung.
Trotz seiner Plumpheit muss der Film einen Nerv getroffen haben, der etwas über die damalige Befindlichkeit verrät. Diese historische Wahrheit scheint mir von dem Vorwurf, Selbstjustiz zu rechtfertigen, überstrahlt worden zu sein. Das Schlussbild ist für mich der Schlüssel: Die Rabauken am Flughafen von Chicago, auf die Charles Bronson mit dem Zeigefinger zielt, sehen irgendwie komisch aus, eigentlich ganz lustig, bunt kostümiert. Sie verhalten sich ruppig, aber nicht wirklich gefährlich. Da ist auf der einen Seite der Kriegsveteran, der Schusswaffen eigentlich verabscheut, aber trotzdem gut damit umzugehen weiß – und mittlerweile Lust daran gefunden hat. Auf der anderen Seite ein paar aufgedrehte junge Leute, die keine richtigen Hippies mehr sind, aber auch noch keine richtigen Punks. Bronson ist älter als sie, er hat als Sanitäter im Koreakrieg gedient, nicht in Vietnam wie die Altersgenossen derjenigen, die vor ihm stehen. Es geht aber nicht in erster Linie um einen Generationenkonflikt, sondern um einen kulturellen Konflikt zwischen Militär und ziviler Gesellschaft, der mit dem Vietnamkrieg und den Hippies seinen schärfsten Ausdruck fand und in „Ein Mann sieht rot“ nachhallt.
Der Film ist nur an der Oberfläche ein Plädoyer für Selbstjustiz. Wichtiger sind die Gefühle, die über diesen Plot ausgedrückt werden. Da war viel Gewalt in der Gesellschaft, möglicherweise auch auf den Straßen der Großstädte, vor allem aber in den vielen jungen Männern, die in Vietnam gekämpft hatten und nun zu Hause dafür nicht anerkannt und sogar beschimpft wurden. Müssen sie die Daheimgebliebenen, die ihnen vermeintlich in den Rücken gefallen sind, nicht gehasst haben?
Interessanterweise gibt es ein paar Bezüge zum Wilden Westen. Bei einem Besuch in Tucson, Arizona, wird Bronson Zeuge einer Westernshow, bei der auch geschossen wird. Sein Geschäftspartner schenkt ihm einen Colt, der an die damals gebräuchlichen Waffen erinnert, und Bronson scheint sich bei seinen Rachefeldzügen in der Großstadt wie ein Revolverheld zu fühlen. Und erzählt nicht auch der Western vom Umgang mit dem Gewaltpotenzial, das durch den Bürgerkrieg aufgebaut worden war und nun kein Ventil mehr fand?
Der Vietnamkrieg wird in dem Film nur am Rande genannt. Aber mir scheint, dass er das Grundmotiv für die Geschichte liefert. Jedenfalls wird er deutlich interessanter, wenn man ihn nicht als Vorschlag zum Umgang mit Straßenräubern sieht, sondern als eine Variante der Dolchstoßlegende, als einen Versuch, einen verlorenen Krieg emotional zu verarbeiten. Aus dieser Sicht wird „Ein Mann sieht rot“ eine wertvolle historische Quelle und damit ein sehenswerter Film.
24. Januar 2019