Digital – was bedeutet das eigentlich?
Von Hans-Arthur Marsiske
Im März 2015 bekam ich von der Kundenzeitschrift eines großen Mobilitätsunternehmens die Anfrage, ob ich mit maximal 3.500 Zeichen erklären könne, „was digital eigentlich genau meint und was eine Binärzahl/folge ist und warum man damit letztlich ein Raumschiff zum Mond bekommt“. Das empfand ich als sehr reizvolle Herausforderung, der ich mich gern gestellt habe.
Mit dem Ergebnis bin ich heute, zehn Jahre später, immer noch zufrieden. Die Redaktion war es damals auch. Das letzte Wort hat beim Corporate Publishing jedoch stets der oberste Boss des jeweiligen Unternehmens. Das ist bei diesem Unternehmen, das sich vollständig im Staatsbesitz befindet, der Bundesverkehrsminister, der hieß zu jenem Zeitpunkt Alexander Dobrindt. Mein Text sei ihm zu „rückwärtsgewandt“, teilte mit die Redaktion mit. Er wolle lieber ein mehrseitiges Gespräch zwischen ihm und dem damaligen Vorstandschef im Heft haben.
Der Redakteur, mit dem ich damals Kontakt hatte, war zuversichtlich, dass ich den Artikel woanders verkaufen könnte. Ich war aber zu träge, ihn noch einmal anzubieten. Vielleicht findet er hier ein paar dankbare Leser*innen? Es würde mich freuen.
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Schwarz oder weiß, richtig oder falsch, gut oder böse – ist es nicht arg simpel, die Welt in zwei Kategorien zu unterteilen? Schließlich weiß doch jeder, dass sie neben strahlendem Weiß und tiefstem Schwarz vor allem aus einer Vielzahl von Grautönen besteht. Doch die müssen selbst in einer zweigeteilten Welt nicht unter den Tisch fallen. Der Trick besteht darin, mit den zwei Kategorien zu rechnen.
Etwas zu digitalisieren bedeutet, es in Zahlen auszudrücken. „Digitus“ ist das lateini-sche Wort für „Finger“ und verweist auf die ursprünglichste Rechenhilfe des Menschen. Sich etwas an den zehn Fingern abzuzählen ist indessen eine recht schwerfällige Rechenmethode. Mit den geschriebenen Ziffern von null bis neun, die sich um die Mitte des ersten Jahrtausends nach Christus in Indien herausbildeten, ging es schon erheblich flotter. Mechanische Hilfsmittel wie Abakus oder Rechenstab sorgten für weitere Erleichterung. Dennoch blieb das Rechnen eine zeitaufwendige Tätigkeit – bis Mitte des 20. Jahrhunderts elektronische Rechenmaschinen entwickelt wurden, die mit zwei Ziffern auskamen.
Tatsächlich lässt sich mit null und eins ebenso rechnen wie mit den vertrauten zehn Ziffern. Zwar sind insbesondere die Darstellungen großer Zahlen fürs menschliche Auge nicht so leicht zu erkennen. 99 Luftballons etwa werden im Dualsystem zu 1100011. Für Maschinen jedoch bedeutet dieses „binäre“ (aus zwei Elementen bestehende) System eine entscheidende Vereinfachung gegenüber dem Dezimalsystem mit seinen zehn Ziffern. Denn alle Zahlenwerte lassen sich mit nur einem Schalter darstellen: „Ein“ bedeutet 1, „aus“ bedeutet 0. Da auf den Mikrochips heutiger Computer Milliarden solcher Schalter Platz haben und pro Sekunde mehrere Milliarden mal schalten können, können diese Rechenmaschinen in kürzester Zeit viel mehr Zahlen verarbeiten als jeder Mensch. Aus diesem Grund wird der Begriff „Digitalisierung“ oft gleichgesetzt mit dem binären Code, dem Rechnen mit 0 und 1.
Entscheidend ist jedoch das Rechnen selbst, die Beschreibung und Erfassung der Welt mithilfe von Zahlen. Die mit zwei Ziffern arbeitende Digitaltechnik hat es von der Trägheit der menschlichen Finger befreit und damit einer mehr als tausend Jahre alten Idee ungeahnte Schubkraft verliehen. Es war der Universalgelehrte Abu Dscha’far Muhammad Ibn Musa al-Chwarizmi, der im Bagdad des frühen 9. Jahrhunderts klar definierte Rechenanweisungen entwickelte, die noch heute nach ihm „Algorithmen“ genannt werden. Ähnlich einem Kochrezept beschreibt ein Algorithmus Schritt für Schritt, welche Zahlen auf welche Weise zueinander in Beziehung gesetzt werden sollen. In Gestalt von Computerprogrammen, die aus Millionen Einzelschritten bestehen können, sind solche Algorithmen heute allgegenwärtig geworden. Sie haben geholfen, diesen Text zu schreiben und zu drucken. Sie optimieren die Farben in den Urlaubsfotos, erkennen Gesichter in den Bildern von Überwachungskameras oder registrieren verdächtige Wörter in Telefongesprächen. Algorithmen reservieren Ihren Sitzplatz für die Bahnreise, empfehlen Ihnen ein Restaurant am Urlaubsort oder überschwemmen Sie mit Emails. Gut oder böse? Schwer zu sagen. Auch wenn die digitale Welt letztlich nur aus zwei Elementen besteht – darauf reduzieren lässt sie sich nicht.
Uhrzeit – analog oder digital?
Auf jedem Bahnsteig ist sie zu sehen: Die große Uhr mit zwei Zeigern. Weil sie die Kreisbewegungen der beiden natürlichen Zeitgeber Sonne und Mond nachvollziehen, gilt diese Art der Zeitanzeige als „analog“ (ähnlich). Sie hat den Vorteil, dass die Tageszeit mit einem Blick zu erkennen ist. Die Anzeige mithilfe von Ziffern (digital) erfordert dagegen ein wenig Kopfrechnen, ist dafür aber präziser und lässt sich auch leichter mit anderen Zeiten vergleichen und verrechnen. Sie wird daher in der Regel für die Zuganzeige genutzt, wo es auf die Minute ankommt. (ham)