Von Hans-Arthur Marsiske
Als ich meinen ersten Roman „Die letzte Crew des Wandersterns“ schrieb, hatte ich es eilig: Da die Geschichte unter anderem von Lebensspuren erzählt, die im Rahmen der europäischen Mission ExoMars auf unserem Nachbarplaneten gefunden werden, sollte das Buch unbedingt vor dem Start der ExoMars-Sonde erscheinen. Der war zu der Zeit noch für den Herbst 2020 geplant.
Ich hatte Glück. Anfang 2018 war ich mit dem Text fertig. Durch Zufall erfuhr ich, dass die Redaktion heise online, für die ich als freier Journalist viel arbeitete, eine Science-Fiction-Buchreihe plante. Mein Roman überzeugte den Herausgeber und eröffnete Anfang 2019, eineinhalb Jahre vor dem Starttermin, die neue Buchreihe. Erstes Etappenziel erreicht.
Ich hatte Pech. Mir war natürlich klar, dass die reale Entwicklung der Mission meine Geschichte, die im Jahr 2028 spielt, unvermeidlich widerlegen würde. Jedoch hatte ich nicht geahnt, dass es auf so drastische Weise erfolgen würde: ExoMars befindet sich immer noch auf der Erde. Die Zusammenarbeit mit Russland, das die Trägerrakete stellen sollte, ist beendet. Vor 2028 wird die Mission nicht starten. In jenem Jahr werden also ganz gewiss keine auf dem Mars entdeckten Bio-Moleküle für Aufregung sorgen. Ziel klar verfehlt.
Und dann hatte ich doch wieder Glück. Denn diese zeitliche Abweichung betrifft letztlich nur die Oberfläche meiner Erzählung. Im Kern handelt sie von verschiedenen Lebensformen und ihren Verhältnissen zueinander. Und hier ist zumindest ein Teil meiner Fiktion jetzt auf gänzlich unerwartete Weise durch die Realität bestätigt worden: Im angesehenen Wissenschaftsmagazin „Science“ warnt ein internationales Autorenteam, das 59 Forschungsinstitute und Firmen aus den USA, Indien, Frankreich, Brasilien, Großbritannien, Singapur, China, Deutschland und Japan vertritt, vor den Gefahren spiegelbildlichen Lebens.
Die Spiegelbildlichkeit bezieht sich dabei nicht auf die Lebewesen selbst, sondern auf die Moleküle, aus denen sie bestehen: Wichtige Bio-Moleküle wie Proteine oder Nukleinsäuren können zwei Versionen annehmen, die sich spiegelbildlich zueinander verhalten wie linke und rechte Hand. Bei der chemischen Synthese im Labor ergibt sicht stets ein Gemisch, das zu gleichen Teilen beide Varianten enthält. Alle Lebewesen auf der Erde bestehen jedoch ausschließlich aus linkshändigen Proteinen und aus rechtshändiger DNA und RNA. Bei der Suche nach außerirdischem Leben gilt eine solche Ausschließlichkeit daher als starkes Indiz für einen biologischen Ursprung.
ExoMars ist mit einem Instrument zur Bestimmung der spiegelbildlichen Ausrichtung (Chiralität) ausgestattet und wäre in meiner Geschichte bereits vor knapp vier Jahren fündig geworden: Allerdings sind die auf dem Mars entdeckten Proteine ausschließlich rechtshändig. Für das Leben auf der Erde stellen sie eine unkalkulierbare, potenziell katastrophale Bedrohung dar. Sie werden daher in sicherem Abstand auf der Raumstation ISS untersucht.
Der kürzlich erschienene Science-Artikel teilt diese Gefahreneinschätzung, verortet sie jedoch woanders: Die Bedrohung durch gespiegeltes Leben kommt nicht aus dem All. Sie ist bereits da. Hier unten auf der Erde.
Einige Forscher, erklären die Autor*innen, arbeiteten bereits daran, Lebewesen zu erschaffen, die komplett aus gespiegelten Bio-Molekülen bestehen. Durchbrüche seien indessen wohl noch mindestens ein Jahrzehnt entfernt und erforderten hohe Investitionen sowie größere technologische Fortschritte. Das biete die Gelegenheit, die damit verbundenen Risiken zu erwägen und ihnen vorzubeugen.
Ihren Überblick über den Forschungsstand, der sich beispielhaft auf künstlich erzeugte Bakterien konzentriert, fassen sie in markanten Worten zusammen: „Wir waren zunächst skeptisch, dass Spiegel-Bakterien irgendwelche größeren Risiken in sich bergen könnten, sind jetzt aber zutiefst besorgt. Wir waren unsicher hinsichtlich der Machbarkeit synthetischer Spiegel-Bakterien, sind aber zu dem Schluss gekommen, dass der technologische Fortschritt sie wahrscheinlich ermöglichen wird. Wir waren unsicher, welche Konsequenzen bakterielle Infektionen bei Menschen und Tieren haben könnten. Nach einer gründlichen Durchsicht vorliegender Studien müssen wir annehmen, dass solche Infektionen schwerwiegend wären.“
Die Forscher bezweifeln zudem, dass Spiegel-Bakterien auf Dauer sicher von der übrigen Biosphäre getrennt werden könnten. Sie fordern dazu auf, ihre Überlegungen kritisch zu prüfen und die Risiken gespiegelten Lebens weiter zu erforschen. „Solange es keine überzeugenden Belege gibt, die uns beruhigen könnten“, so ihre Schlussfolgerung, „sollten wir keine Spiegel-Bakterien oder andere gespiegelte Organismen herstellen. Wir glauben, dass dies gewährleistet werden kann, ohne übrige Forschungen allzu sehr einzuschränken.“ Es brauche eine breite Debatte, um das weitere Vorgehen zu klären.
Die Formulierung erinnert an ähnliche Aufrufe, riskante Forschungen und technologische Entwicklungen streng zu kontrollieren oder sogar ganz zu unterlassen. So hat der britische Biologe Charles S. Cockell in seinem Buch Space on Earth bereits 2007 gefordert, bei der Suche nach außerirdischem Leben dem Prinzip „höchster moralischer Relevanz“ zu folgen. Jegliche Lebensform, die wir außerhalb der Erde finden, solle „bis zum klaren Beweis des Gegenteils“ als intelligent gelten, egal wie unscheinbar und „primitiv“ sie auf den ersten Blick wirken möge.
In dem 2012 erschienen Buch Kriegsmaschinen über Militärroboter habe ich diesen Ansatz auf intelligente Roboter und Künstliche Intelligenz allgemein übertragen und gefordert, bis zum Beweis des Gegenteils davon auszugehen, dass sich diese künstlichen Agenten zu komplexen, leidensfähigen Wesen entwickeln können: „Wir schaffen die Grundstrukturen der künstlichen Lebensformen, mit denen alle künftigen Generationen leben werden. Das sollte ruhig und überlegt geschehen, nicht im atemlosen Wettstreit um kurzfristige militärische Vorteile.“
Diese Mahnungen sind bislang ohne nennenswerte Resonanz geblieben. Selbst der im März 2023 veröffentlichte Offene Brief zahlreicher Forscher, der dazu aufrief, die Entwicklung weiterer mächtiger KI-Systeme wie Chat-GPT für mindestens sechs Monate zu unterbrechen, wurde zwar mehr als dreißigtausend Mal unterzeichnet, zeigte aber ansonsten keine erkennbare Wirkung.
Die Warnungen vor gespiegeltem Leben haben zwar bislang noch nicht viel Aufmerksamkeit gefunden, was auch daran liegen mag, dass die Zusammenhänge schwieriger nachzuvollziehen sind. Gleichwohl räume ich diesem Aufruf größere Erfolgschancen ein. Denn es ist offensichtlich und müsste eigentlich Jeder und Jedem einleuchten, dass schon ein winziger Fehler, womöglich ein einziges, gespiegeltes Bakterium, das aus dem Labor entkommt, zu einer globalen Katastrophe führen kann. Im Vergleich dazu erscheint die Entwicklung von KI als ein schleichender Prozess, den man glaubt, immer noch rechtzeitig stoppen zu können, wenn sich Gefahren deutlicher abzeichnen.
Bislang tun wir uns schwer damit, etwas technisch Machbares nicht zu tun. Wenn es beim gespiegelten Leben gelingen sollte, wäre das ein bedeutender kultureller Fortschritt, der meinen Hoffnungen, dass wir auch große Herausforderungen wie den Klimawandel und die weltweite Aufrüstung bewältigen könnten, heiß ersehnte Nahrung geben würde.
8. Januar 2025